Wie Kinder und Enkel nach der Wahrheit über den Nazi Hanns Ludin suchen: Der unheimliche Vater (2024)

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Es geschah 1946 bei einem Sonderappell in einem amerikanischen Lager im bayrischen Natternberg. Es hatte an höherer Stelle Beschwerden über die Hygiene im Lager gegeben; der Appell sollte zeigen, was passiert, wenn man sich beschwert. Die deutschen Gefangenen mussten nach dem Alphabet zum Spießrutenlaufen antreten und einzeln durch ein Spalier von amerikanischen Soldaten laufen, die mit Gummiknüppeln zuschlugen: "Bei L wurde der Appell abgebrochen", berichtet ein Augenzeuge. "Ludin war aufgerufen worden. Sie droschen auf ihn ein. Ludin ging gleichmütig weiter. Als er bei Wislowski angelangt war, verlor er einen seiner Holzschuhe. Er machte kehrt und angelte mit dem nackten Fuß nach seinem Schuh. Wislowski lief hinter ihm her und schlug auf ihn ein. Dabei verlor Wislowski seinen Gummiknüppel. Ludin bückte sich und hob ihn auf und überreichte ihn Wislowski. Das Lager lachte, das ganze Lager von L bis Z lachte wie befreit.... Ludin, alter, braver Ludin, verstehe einer die Welt! Ludin verstand sie."Es ist die Umsetzung von Jesus' Bergpredigt: "Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstrebt dem Übel, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar." Die Peiniger werden ausgelacht, und der Gepeinigte ist der moralisch überlegene Held. Er heißt Hanns Elard Ludin. Sein Mitgefangener und Freund Ernst von Salomon beschreibt die Geschichte in seinem autobiografischen Buch "Der Fragebogen", das 1951 erschien und ein Bestseller in der Bundesrepublik wurde.Selbst wenn Ludin die Welt verstanden haben sollte, wie Salomon schreibt - er hat sie seinen sechs Kindern und seinen Enkeln nicht mehr erklären können.Wer war dieser Mann? Ludin - angeklagt unter anderem der Mitwirkung an den Judendeportationen - wurde nach dem Krieg von den Amerikanern in die Tschechoslowakei ausgeliefert und dort zum Tod verurteilt. "Im Namen tausender KZ-Opfer, im Namen der Witwen und unglücklichen Waisen, im Namen aller, deren Leben und Glück durch diesen Krieg vernichtet wurden", hieß es in der Urteilsbegründung. "Ich habe", schrieb Ludin in einem Gnadengesuch, "unter dem Zwang der Verhältnisse gehandelt, im Rahmen der mir gegebenen Befehle und Weisungen, ich habe geschwankt, ich habe Irrtümer und Fehler begangen, aber kein Verbrechen. Ich lege daher die Entscheidung über mein Schicksal ganz ruhig in Ihre Hände."Am 9. Dezember 1947 wurde er in Bratislava von Scharfrichtern stranguliert. "Es lebe Deutschland!", lauteten seine letzten Worte. Da war seine älteste Tochter Erika 14 Jahre alt und sein jüngster Sohn Malte fünf.Erikas Tochter Alexandra Senfft hat mit "Schweigen tut weh" ein Buch über Hanns Ludin geschrieben, Malte vor zwei Jahren mit "Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß" einen Dokumentarfilm über ihn gedreht. Es sind zwei in ihrer Unerschrockenheit und in ihrem persönlichen Offenbarungsdrang berührende und aufrüttelnde Arbeiten. Schmerz spricht aus ihnen, er zeigt, wie seelische Versehrung vererbt wird und als Trauma in den Nachkriegsgenerationen weiterwirkt. Das gilt nicht nur für die Kinder der Opfer, sondern auch für die der Täter.Hanns Ludins Lebensstationen sind gut dokumentiert und seinen Kindern bekannt. Dennoch trägt jedes seine eigene Sicht auf den Vater in sich, suchte jedes seinen eigenen Weg, mit dem Vater fertig zu werden.Hanns Ludin wurde 1905 als Sohn eines Gymnasialprofessors und einer Malerin in Freiburg im Breisgau geboren. Das Elternhaus des Einzelkindes ist kaisertreu, religiös und deutsch-national. Seine Vaterlandsliebe treibt den 19-jährigen Ludin in die Reichswehr, seine Abscheu gegen die Weimarer Republik macht ihn zum Verschwörer, der 1930 wegen des Versuchs, in der Reichswehr, den Streitkräften der Republik, eine nationalsozialistische Zelle zu bilden, zu 18 Monaten Festungshaft verurteilt wird. Bei diesem Prozess beteuert Adolf Hitler unter Eid, dass die NSDAP die Macht ausschließlich mit legalen Mitteln anstrebe. Vielen Deutschen kann der künftige Diktator die Angst vor einer gewaltsamen Machtergreifung nehmen.Die verliebte Erla von Jordan schreibt ihrem künftigen Mann Hanns Ludin stolze Briefe ins Gefängnis. Sie nennt ihn einen Helden, weil er mit diesem Prozess so viel Nutzen für das öffentliche Ansehen und die nationale Idee gebracht habe.Ein Held wird er ihr ein Leben lang bleiben, und sie tut alles dafür, dass er es auch ihren Kindern und Enkeln bleibt. "So lange sie lebte", sagt Malte Ludin, "hätte ich mich an den Film nicht gewagt. Sie lebte lange." Sie überlebte ihren Mann um fast 50 Jahre, wurde 91 Jahre alt und starb vor zehn Jahren an Krebs.Nach der Haft, im Juni 1931, tritt Ludin sofort in die NSDAP ein. Er beginnt seine politische Karriere als Führer des SA-Gausturms Baden. Ludin hat Ernst von Salomon, seinem Mitgefangenen im amerikanischen Lager, einmal erklärt, aus welchen Gründen er zum Nationalsozialisten wurde: "Er sah einfach den ursprünglichen Hort der angemessenen Tugenden, das liberale Bürgertum, gewissermaßen biologisch zu schwach geworden; er sah andere, neue und jüngere Mächte aufsteigen, bereit, die alten soziologischen Schichtungen abzulösen, - und in diese nun das Beständige hineinzutragen, das dünkte ihn seine eigentliche Aufgabe. Er habe nach einer Gelegenheit gesucht, in großem Rahmen pädagogisch zu wirken, durch Vorbild und Beispiel männliche Tugenden zu pflegen, Kameradschaft, Treue, Anständigkeit."Durch des Führers unerforschliche Gnade überlebte Hanns Ludin 1934 als einer der wenigen SA-Führer den Röhm-Putsch, die "Nacht der langen Messer", bei der Hitler in einem innerparteilichen Machtkampf mit seinem einstigen Weggefährten und jetzigen Rivalen Ernst Röhm fast die gesamte SA-Elite erschießen ließ. "Ich wurde", so zitiert Ernst von Salomon in seinem Buch Hanns Ludin, "mit einer Reihe anderer SA-Führer auf offener Straße durch die entgegenkommende Kolonne des Führers angehalten. Wir mussten in einer Reihe antreten, und der Führer ging von einem zum andern, jeden betrachtend, mit einem Blick, den ich zum ersten Male so empfand, wie er mir immer geschildert wurde, ohne dass ich beistimmen konnte, mit einem Blick, den ich nun auch als ,magisch' empfand. Hitler sagte kein Wort. Nur, als er bei mir angekommen war, sagte er, ohne Betonung und gleichsam in Gedanken verloren: ,Ludin', - und ich wusste nicht, ob ich damit zum Tode oder zum Leben verurteilt war. . Ich war zum Leben verurteilt."Keine zehn Jahre nach seinem Parteieintritt war Hanns Ludin Diplomat. Im Januar 1941 wird er Botschafter, also "Gesandter I. Klasse und Bevollmächtigter Minister des Großdeutschen Reiches" in der vom "Dritten Reich" abhängigen Slowakei - was einen Jahresverdienst von 47 500 Reichsmark bedeutete. Die Familie zieht nach Pressburg (heute Bratislava) und genießt ein schönes, friedliches, wohlständiges Leben in einer der wenigen Ecken von Europa, in die der Weltkrieg kaum drang. Noch im April 1945 feiert Ludin den Geburtstag des Führers. Die Villa, in der sie wohnen, war "arisiert". Man hatte sie einem Juden, dem slowakischen "Bierkönig" Stein weggenommen.Malte Ludin lässt im Film seine älteren Schwestern ihre sonnigen Erinnerungen an das Haus, den Garten und an das Personal schildern. Parallel kommt Juraj Stern zu Wort, ein vertriebener Nachbarsjunge der sich als Kind in einem Stall verstecken musste, wo er in einem Futtertrog, nur mit Heu bedeckt schlief. Er war den ganzen Tag allein, bis auf ein paar Minuten, wenn der Bauer mit Essen und Ermahnungen kam: "Nicht schreien! Nicht weinen! Still halten!" Nach dieser Tortur hat er noch bis zu seinem 18. Lebensjahr gestottert.60 000 bis 70 000 Juden sind in der Zeit, als Hanns Ludin Gesandter war, politische Verantwortung trug und entsprechende Befehle unterschrieb, aus der Slowakei deportiert und in Vernichtungslagern ermordet worden. Unter ihnen sind die Eltern, die Schwester, die Großeltern, Onkel, Tanten und Freunde des Schriftstellers Tuvia Rübner. Malte Ludin setzt sich in seinem Film der Begegnung mit Tuvia Rübner aus.Er wurde 1924 in Pressburg geboren, seine Muttersprache war deutsch, er besuchte deutsche Schulen, bis Juden dort nicht mehr zugelassen waren. Es blieb ihm die Möglichkeit einer landwirtschaftlichen Ausbildung bei einer zionistischen Jugendorganisation. Ihr hat er es zu verdanken, dass er 1941, im Alter von 17 Jahren und mitten im Krieg, zusammen mit ein paar Kameraden und seiner ersten Liebe gerade noch rechtzeitig über Ungarn, Rumänien, die Türkei, Syrien und den Libanon in einen Kibbutz nach Palästina fliehen konnte; auf dem Bahnhof in Bratislava sah er seine Eltern zum letzten Mal.Als Malte Ludin den immer noch im selben Kibbutz lebenden Poeten trifft und ihm sagen muss, wessen Sohn er ist, bröckelt der Mut. "Dann ist es Ihr Vater, dem meine Eltern, meine ganze Familie zum Opfer gefallen sind", sagt Rübner. Und Malte Ludin nickt erst heftig, will das dann aber doch nicht so stehen lassen: "Also er ist nicht direkt, exekutiv verantwortlich für die Deportationen gewesen." Selbst bei dem unerschrockenen Malte Ludin greift der fadenscheinige Entlastungsreflex, den er seinen Schwestern nicht durchgehen lässt. Er hat lange überlegt, ob er diese Szene in seinem Film verwendet. Er macht ihn glaubwürdiger, indem er sich dafür entscheidet.Die Frage, ob ein Schreibtischtäter weniger Schuld auf sich lädt als jemand, der sich die Hände selber schmutzig macht, wird überlagert von einer anderen: Hat Hanns Ludin gewusst, dass er die Deportierten in den Tod schickt? An diesem Punkt - es ist der wunde - scheidet sich die Familie.Die einen sagen, Hanns Ludin habe nicht geahnt, was mit den Juden geschieht; das war die Version von Hanns Ludins Frau Erla, die wie ihr Mann nicht gewusst habe, was Vergasen sei. Sie hielt das für Gerüchte und Propaganda der Exiljuden, was ihr, wie sie sich erinnert, nur gezeigt habe, dass man noch nicht genug von ihnen eingesperrt hatte.Die anderen - Malte Ludin und Alexandra Senfft gehören dazu - sagen, dass ein derart ranghoher Vertreter des Dritten Reichs, der in ständigem Kontakt mit dem Auswärtigen Amt stand, wusste, was er tat, wenn er seinen Namen unter einen Deportationsbefehl setzte. Laut einem Bericht des "Judenberaters" Dieter Wisliceny - ein Protegé von Adolf Eichmann, zuständig für die Deportationen der slowakischen, griechischen und ungarischen Juden - seien bis Ende Juni 1942 52 000 Juden aus der Slowakei "ausgeführt" worden. Ludin, so schreibt seine Enkelin Alexandra Senfft in ihrem Buch, habe nun nach einer "hundertprozentigen Lösung" verlangt und nach Berlin gekabelt: "Die Durchführung der Evakuierung der Juden aus der Slowakei ist im Augenblick an einem toten Punkt angelangt. Bedingt durch kirchliche Einflüsse und durch die Korruption einzelner Beamter haben etwa 35 000 Juden Sonderlegitimationen erhalten, auf Grund derer sie nicht evakuiert zu werden brauchen. Die Judenaussiedlung ist in weiten Kreisen des slowakischen Volkes sehr unpopulär."Für Alexandra Senfft ist erwiesen, dass ihr Großvater "aktiv an einem industriellen Massenmord, dem größten aller Menschheitsverbrechen" beteiligt war. Und sie wiederholt dies in ihrem Buch oft, so als müsse sie sich jeden Zweifel verbieten. "Mit ,100 %-iger Lösung' meinte mein Großvater gewiss nicht ,Aussiedlung' und ,Arbeitslager'. All diese Euphemismen dienen lediglich dazu, ein mörderisches Großunternehmen in einer verschlüsselten Sprache minutiös zu dokumentieren - und der Nachwelt, hier meiner Familie, Interpretationsschlupflöcher zu schaffen."Wie sich diese Schlupflöcher in verschiedenen Abstufungen zu blinden Flecken und zu Lebenslügen ausweiten, kann man in Malte Ludins Film miterleben. Die verschiedenen Vaterbilder der Geschwister - von der Ikone bis zum Schreckensbild - prallen in schmerzhaften, scheinbar unversöhnlichen Auseinandersetzungen aufeinander.Für Malte Ludin war der Vater erst ein Held. Dann - nach seinem Studium der Politikwissenschaften in Tübingen und Berlin, das er im Jahr der Studentenbewegung 1968 abschloss - ein Nazi wie jeder andere auch. Nach dem Tod seiner Mutter im Jahre 1997 suchte er den Mittelweg zwischen Identifikation und Distanz, forschte, um es pathetischer zu sagen, nach der Wahrheit.Die schwersten Wortgefechte liefert sich Malte mit der 1935 geborenen großen Schwester Barbel, eine Buchhändlerin, die sich ein Schuldeingeständnis ihres Vaters nicht entlocken lässt: "Mein Recht ist es," so Barbels Worte, die ersten Worte des Filmes, "meinen Vater so zu sehen, wie ich ihn sehen will." Und sie verbessert sich: "Nicht, wie ich ihn sehen will, sondern, wie ich ihn sehe. Du hast halt deine Sicht, und das tut mir leid.""Dann bleibt jeder mit seiner Sicht allein?", fragt Malte."Ja. Und wenn du gedacht hast, dass du mit diesem Film daran irgend etwas ändern kannst, dann ist das eben leider ein Fehlschluss."Der Bruder konfrontiert Barbel mit Geheimberichten und Verschlusssachen, die von ihrem Vater unterzeichnet sind: "In der Ukraine wurden Juden massenhaft niedergeschossen, und zwar nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder", habe der Vater in einem Bericht nach Berlin den Hirtenbrief slowakischer Bischöfe zitiert. "Vor der Hinrichtung mussten sie ihr Grab selbst ausheben."Barbel hört nur, dass nicht von Vergasung und Vernichtungslagern die Rede ist: "Ja massenhaft getötet, das wurden sie ja auch - im Zuge von Partisanenerschießungen wurden die Juden dann eben auch gleich mit eingesammelt."Malte: "Du meinst, sie sind zu recht erschossen worden?"Barbel: "Nein, das nicht. Aber das ist eben Krieg, Maltechen, das ist die Tatsache des Krieges. Da werden die Leute erschossen. Du spielst dich jetzt hier auf als ein, ich weiß nicht, Rächer der Entrechteten."Der Streit geht weiter, Malte Ludin pendelt mit dem Oberkörper, kann nicht still stehen, und Barbel flüchtet sich hilflos in ätzende Ironie - sie kommen keinen Schritt weiter. Man hat zwei gestandene Leute im siebenten Lebensjahrzehnt vor sich. Aber in diesem Streit fallen sie in ihre Kindheitsrollen zurück - große Schwester, kleiner Bruder. Sie lassen die Vergangenheit Besitz von sich ergreifen, eine Vergangenheit, über die sie sich nicht verständigen können.Auch den beiden anderen noch lebenden Schwestern stellt Malte die Schlüsselfrage, die er selbst gleich zu Beginn seines Filmes mit einem entschlossenen Ja beantwortet: War der Vater ein Nazi-Verbrecher? Ellen (geboren 1938), eine Journalistin, schüttelt sehr lange, fast mechanisch den Kopf, sie klaubt unsichtbare Fussel von ihrem Rock und stammelt sich dann um die Antwort herum. Sie habe sich damit abgefunden, dass sie keine Antwort auf diese Frage erhalten werde. Der Vater habe nicht mit der Pistole in der Hand herumgestanden oder den Schlüssel zur Gaskammer gehabt. Sie will nicht zugeben, dass ihr Vater von der Judenausrottung gewusst hat. Aber immerhin macht sie ihm doch den "innerlichen" Vorwurf, dass er sich in seiner Position hätte informieren können. "Im Kopf bin ich vielleicht ein Täterkind", sagt sie, "im Bauch bin ich es nicht."Andrea, die jüngste Tochter (Jahrgang 1943), ist Galeristin. Sie kennt all die Dokumente, die ihr der Bruder vorlegt, und sie hütet in aller Sachlichkeit und Logik jene Interpretationslücke wie einen Strohhalm, der sie am Leben hält: "Die Sache ist derartig komplex und schwierig. Wenn ich all die Dokumente auswerte, bedeuten die auf jeden Fall nicht, dass er meinte, die Juden werden vernichtet, wenn er eine Zahl angibt, so und so viele werden deportiert."Auch die Ehemänner der Schwestern kommen zu Wort in dem Film. Sie äußern Meinungen, die in ihren Abstufungen mit denen ihrer Frauen harmonieren - auch hier zeigt sich, wie Erinnerung gemacht wird und sich in den bereinigten Versionen verbreitet. Barbels Mann schließt sich an die Ahnungslosigkeitsthese an ("das war schwer erkennbar"), und Ellens Mann will seiner Frau und ihren Geschwistern die "letzte Verdammung ihres Vaters ersparen", solange die Fakten ihn nicht unbestreitbar zu einem "wirklichen Täter" machten.So abwägend und behutsam das klingt, so undeutlich wird das Bild, das infolgedessen in der nächsten Generation über den Großvater kursiert: Die Version vom "vielleicht nicht wirklichen Täter" ist bei einigen der Enkel als Widerstandskämpfer-Mythos angekommen. Und die Seele scheint in dieser Verkehrung ihre liebe Ruhe gefunden zu haben.Tilman, Maltes älterer Bruder (Jahrgang 1939), wählte den radikalsten Weg - er versuchte, seine Wurzeln zu kappen. 16-jährig ist er aus Deutschland ausgewandert und lebte bis zu seinem Tod in Südafrika 1999. Seinen Kindern verleugnete der Unternehmer die Wahrheit über den Großvater, er wollte sie nicht mit "hineinziehen". Dieses Schweigen mischt sich heute als offene Wunde in die Trauer seiner Kinder.Erika - Hanns' und Erlas Ludins erste, 1933 geborene Tochter - fand keinen Weg, mit der Figur des Vaters zurecht zu kommen. Sie litt an Depressionen, die sie vergeblich mit Alkohol zu bezähmen versuchte - sie wurde zur Quartalstrinkerin. In betrunkenem Zustand vermochte sie, ihren Vater als Schwein zu beschimpfen. Ihre Kinder mussten mit ansehen, wie sie sich am Küchentisch das Messer an die Kehle hielt und von Selbstmord redete; sie mussten sich die Schreie aus dem Schlafzimmer anhören; sie mussten sich als Erwachsene von der Mutter mit nächtlichen Telefonanrufen tyrannisieren lassen - die von Hilferufen in Klagen und Vorhaltungen übergingen.Erika starb im Alter von 65 Jahren einen grausamen Tod, der für ihre Tochter Alexandra Senfft der Schlusspunkt hinter einem schleichenden Selbstmord ist: Man fand sie in einer Badewanne mit kochend heißem Wasser. Sie lebte noch und wurde mit schwersten Verbrühungen ins Krankenhaus geflogen und unter Morphium gesetzt, bevor sie im Beisein ihrer Kinder starb. Ihnen blieb es überlassen, die Wohnung zu räumen, Fotos, Dokumente und Briefe zu verpacken. Sieben Jahre vergingen, bis Alexandra Senfft die Kisten wieder öffnete, um der Geschichte ihrer Mutter, ihrer Familie, ihres Großvaters auf den Grund zu gehen. Sie tat dies auch ihrer eigenen Psyche zuliebe, auf die die seelischen Qualen der Mutter fortzuwirken drohten. Schuld sei nicht vererbbar, schreibt Alexandra Senfft, Schuldgefühle aber sehr wohl.Alexandra Senfft sieht ihrem Großvater sehr ähnlich. Die gleichen dunkel funkelnden Augen, die gleichen Lachfältchen, die gleichen starken Brauen und die gleiche markante Nase. "Es ist verführerisch, sich an die positiven Seiten von Hanns Ludin zu klammern", schreibt sie. "Man gerät dabei in die Versuchung, seine aggressiven Charakterzüge zu leugnen, sie zu verdrängen und dabei den Überblick zu verlieren." Und dann rutscht ihr ein rätselhafter Satz heraus: "Auch ein guter Mensch kann schreckliche Dinge tun."In diesem Satz blitzt das ganze Problem auf: Denn wie können Menschen, die gut sind, schreckliche Dinge tun? Menschen, die schreckliche Dinge tun, sind nicht gut. Sie sind böse. Selbst wenn man sie liebt. Vielleicht deshalb hat Hanns Ludin immer noch Macht über sein Andenken in der Familie.Alexandra Senfft Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte. Claassen Verlag 2007, 351 Seiten, 19,95 EuroMalte Ludin " 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß", Kinostart April 2005, DVD im Buchhandel erhältlich und über www.absolutmedien.de, im Fernsehen am 7. 8. 2007 um 22.45 Uhr ARD, www.2oder3dinge.deErnst von Salomon Der Fragebogen, 669 Seiten, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2007 (17. Auflage)------------------------------Foto: Hanns Elard Ludin auf dem 6. Parteitag der NSDAP 1937 in Nürnberg------------------------------Foto: Erla Ludin, Hanns Ludins Frau, und ihre sechs Kinder: Erika, Barbel, Malte, Ellen, Andrea und Tilman (von oben links, im Uhrzeigersinn).

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